Am Anfang mal einige Zahlen.
Alle Blogs im Internet zusammen haben 14 % Nettoreichweite, was bedeutet, dass 86 % der Menschen in Deutschland niemals einen Blog lesen.
Eine Seite wie Spiegel.de hat 48 % Nettoreichweite, aber nur 18 Minuten Nutzungszeit im Monat.
Globale Markenkonzerne, die über Jahre dreistellige Millionenbeträge in ihren Internetauftritt investiert haben, kommen auf 1–2 Minuten Nutzungszeit im Monat.
Der ÖRR hat 48 % Quotenanteil im TV, aber nur 3,5 % im Internet.
Der freie und faire Wettbewerb ist auf dem digitalen Medienmarkt völlig außer Kraft gesetzt. Im Prinzip kann man sagen, dass das freie Internet nicht mehr existiert. Die Netzstruktur mit gleichberechtigten Punkten, die ich über Hyperlinks erreichen kann, wird von den Tech-Giganten missbraucht. Sie haben einzelne Netzpunkte und saugen den Traffic in ihre Silos auf, und das erreichen sie mit sehr unfairen Methoden. Angefangen von Netzwerkeffekten, geschlossenen Standards, keine Übernahme von Verantwortung für Inhalte bis hin zum Monopolmissbrauch und Ausbeutung, weil User Generated Content einfach genommen und nicht entlohnt wird. Sie steuern über Algorithmen das Suchtpotenzial, sammeln unvorstellbare Datenmengen und erstellen sehr detaillierte Profile von Menschen, um sie vollkommen verantwortungslos für ihre Zwecke zu missbrauchen.
Dass sich Menschen in solchen Gefängnissen wie X, Threads, Instagram, TikTok, Facebook und Co. wohlfühlen, beruht partiell auch auf dem Wissen, wie unser Steinzeitgehirn funktioniert. Da werden wissenschaftliche Erkenntnisse skrupellos gegen uns eingesetzt und das funktioniert sehr gut.
Das konnte man gut beobachten, als Twitter von Elon Musk übernommen wurde. Viele suchten nach einer neuen Social-Media-Plattform, die ähnlich wie Twitter funktioniert, und landeten bei Mastodon. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit des Ansturms. Es gab immer wieder große Wellen, nur wenige sind am Ende geblieben. Mastodon als Teil des Fediverse funktioniert eben nicht wie die großen Silos. Viele waren schon damit überfordert, überhaupt einen Account anzulegen, und das nur, weil sie sich für einen Server entscheiden mussten, auf dem der Account angelegt wird.
Und dann kamen einige Tech-Medien und sogenannte Social Media Experten, die von einem nicht zeitgemäßen „Onboarding“ sprachen und irgendwie ist bei Mastodon ja auch nicht viel los. Der Begriff Fediverse wurde in diesem Zusammenhang gar nicht erst verwendet, da man entweder glaubte, Mastodon sei das Fediverse, oder weil man den interessierten Leser oder Zuhörer nicht überfordern wollte. Das ging monatelang so. Den Begriff „Onboarding“ kann ich wirklich nicht mehr hören, da ich ihn in diesem Zusammenhang vollkommen bekloppt finde.
Menschen können sehr komplexe Aufgaben bewältigen, aber beim Anlegen eines Accounts fühlt man sich plötzlich überfordert, weil das „Onboarding“ so kompliziert ist? Nein, eigentlich möchte man zurück in ein zentrales Gefängnis, weil man das Gefühl hat, dass es dort viel schöner und vertrauter ist. Zu viel Freiheit wirkt eher wie ein Hindernis, da man schon konditioniert ist. Wer sich mit angelegten Fußfesseln nicht bewegt, glaubt, frei zu sein. Und Big Tech ist sehr gut darin, uns glauben zu lassen, dass wir am richtigen Ort sind.
Diese Silos wie Facebook, Instagram, TikTok, Twitter, heute X und etwas neuer Bluesky oder Threads sind nicht aus altruistischen Motiven entstanden. Es ging nie darum, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Es ging von Anfang an nur darum, mit der Plattform extrem viel Geld zu scheffeln – ohne Skrupel, ohne Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte von Menschen, frei von Anstand und Moral. Und was leider viel zu selten erwähnt wird: Ohne die willigen Unterstützer aus der Werbewirtschaft wäre das in diesem Ausmaß gar nicht möglich.
Die ganzen Benefits und Goodies in der Wachstumsphase der Plattformen dienen und dienten in erster Linie dazu, Nutzer*innen und Werbetreibende anzulocken, um sie dann in Geiselhaft zu nehmen. Die Plattformen sind so groß geworden, dass sie die Spielregeln bestimmen. Selbst Risikokapitalgeber investieren kaum noch Geld in ähnliche Projekte, weil sie wissen, dass diese zum Scheitern verurteilt sind.
Für uns sind die Netzwerke, die wir auf den Plattformen mühsam aufgebaut haben, sehr wertvoll. Deshalb fällt es uns auch so schwer diese Kloaken zu verlassen, denn im Gegensatz zum Fediverse können wir unser Netzwerk nicht einfach mitnehmen. Und wenn wir es dann doch schaffen, fliehen wir nicht einfach in die Freiheit. Nein, wir wechseln nur das Gefängnis.
Die Flucht zu Bluesky
Nach der Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten verlassen derzeit viele Amerikaner die Plattform X, was zu einem enormen Anstieg der Nutzerzahlen bei Bluesky führt. Das ist die Plattform, die sich ursprünglich über den Verkauf von Domains finanzieren wollte und nun ein Premium-Modell einführt. Zudem hat sich Bluesky in einer weiteren Finanzierungsrunde Kapital aus einer Krypto-Bude ins Haus geholt, die amerikanische Venture-Company Blockchain Capital. Und es ist auch die Plattform, die ihre Nutzer angeblich nicht einsperren will, weil sie dezentral über das AT-Protokoll aufgebaut ist.
Update vom 23.11.24
Den folgenden, nun durchgestrichenen Textabschnitt möchte ich revidieren, da er so nicht stimmt. Ich hatte da falsche Informationen. Wer sich ausführlicher mit der Architektur von Bluesky beschäftigen möchte, wird hier fündig.
Nun ist es aber nicht so, dass man sich die Software einfach als Open Source herunterlädt und damit einen eigenen Bluesky-Webserver betreibt, wie es bei den Fediverse-Diensten der Fall ist. Genau genommen widerspricht Bluesky dem ursprünglichen Konzept eines offenen, dezentralen Netzwerks ohne Abhängigkeiten und zentraler Kontrolle. Die Kontrolle liegt nach wie vor bei Bluesky und ohne die Zentralinstanz läuft anscheinend nichts. Aber hey, Hauptsache das „Onboarding“ ist supi. Und echte Interoperabilität lässt auch noch auf sich warten. Letztlich ist meiner Meinung nach die Enshitification, ein von Cory Doctorow geprägter Begriff, schon angelaufen.
Schlusswort
Es geht längst nicht mehr nur um Wirtschaft, es geht um die Gefährdung der Demokratie. Und das können wir alle jeden Tag beobachten.
Ich könnte jetzt versuchen, euch ins Gewissen zu reden, euch zu bitten, diese Plattformen zu verlassen, aber das führt zu nichts. Wir kommen da nicht alleine raus, dazu braucht es Hilfe aus der Politik und die Plattformregulierung durch die EU kann da nur ein Anfang sein.
Ich selbst habe mich schon vor langer Zeit von den überwachungskapitalistischen Plattformen verabschiedet und vermisse nichts. Mein Zuhause im Internet ist das Fediverse.
Bildquelle Startseite: KI – Stable Diffusion 3.5
Schreibe einen Kommentar